Kennt ihr das, nen Kumpel läd euch zu ner Party ein, und ihr habt echt keine Lust das Haus zu verlassen? Ihr wusstet von der Party, die wird sicher öde auch wenn euer Kumpel natürlich in den höchsten Tönen von der bevorstehenden Festivität schwärmt. Ihr wisst aber, der hat nur keine Lust alleine aufzukreuzen. Das alles wäre halb so schlimm, hättet ihr außer eurer derzeit unpassenden Bekleidung – einer Jogginghose deren Waschzeitpunkt deutlich in der Vergangenheit lag – eine passende Ausrede. Ihr wart lang nicht mehr auf einer Party, also sagt ihr, unmotiviert knurrend zu.
Mit dieser Analogie lässt sich der Beginn meiner Beziehung zu Bless Online wohl treffendsten beschreiben. Nach Black Desert Online und Blade & Soul hatte ich von Asia-MMOs, und noch viel mehr von ihren Microtransaktionen genug. Allein die Ankündigung, dass Bless sowohl Buy2Play mit zusätzlichem Premiumstatus als auch noch InGame-Shop „bieten“ sollte [bieten ist in diesem Zusammenhang ein merkwürdiges Verb] hatte bei mir Abscheu hervorgerufen. Ein zweites BDO, welches einem an jeder nur denkbaren Stelle das Geld aus der Tasche ziehen möchte war genau das, was ich mir momentan nicht wünschte.
Die Berichterstattung vom entwicklereigenen „Live-Event“, der den Charm einer VHS-Dokumentation einer Lan-Party in den 90ern hatte, lies mich fast schon perplex und erstaunt die Frage stellen, ob man mit solch einem Marketing heute noch etwas erreichen könne. Das als Community-Guides dann auch noch jeder, ja wirklich jeder Youtube-Channel ins Guide-Programm aufgenommen wurde der sich bewarb, hat mich dann kaum noch weiter verstören können, auch wenn die Tierpsychologin ohne auch nur ein einziges gamingbezogenes Video mich stutzen ließ.
Ich hätte wohl keinen weiteren Gedanken verschwendet, hätte es nicht einen weiteren Marketing-Eklat gegeben. Mittlerweile hatte ich schon Kollegen aus dem Marketing informiert, man möge sich diese Entwicklung als Paradestück der Unfähigkeit doch zu Gemüte führen. Der Publisher hatte doch wirklich auf die Frage was denn den „Premium Support“ im teuersten Vorbesteller-Paket umfassen würde lapidar geantwortet, dass die Supporttickets dieses erlauchten Kundenkreises sogar wahrhaftig gelesen werden würden.
Das nenne ich mutig! Unweigerlich denke ich an einen Babybrei-Hersteller der verlauten lassen würde nur die preiswerten Gläschen wäre mit gesundheitsgefährdenden Chemikalien verseucht. Aber es war gerade die Reaktion auf dieses Debakel, die mich Bless näher brachte. Denn keine 48 Stunden später, ruderte Neowiz (der Publisher des Spiels) zurück, strich den besagten Vorteil, gestand ihn (zumindest angeblich) allen Käufern zu und senkte gleichzeitig den Preis. Hut ab, schnell und direkt reagiert. Ich war beeindruckt und das ist bei mir selten der Fall, wenn es um die Handlungsweise eines Publishers geht. Vielleicht war das der springende Punkt, oder zumindest der Anstoß dem Spiel doch eine Chance zu geben.
Das der Releasetag ein Fiasko wurde, war absehbar. Nicht einmal aus technischer Sicht, denn da habe ich um Längen Schlimmeres erlebt, nein die Reaktion der „Kunden“ war es, die mich an der Mündigkeit einer ganzen Gesellschaftsschicht hat zweifeln lassen. Welche lawinenartige Dynamik heutige Negativbewegungen annehmen können, hatte ich ja geahnt, aber so dunkel hätte ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht ausmalen können.
Youtuber die nach 90 Minuten Spielzeit vernichtende Urteile über ein gesamtes MMO abgeben, Spieler, die das Spiel nicht einmal gekauft haben, aber seitenweise, nicht enden wollende Hetzkommentare in sozialen Netzwerken und Foren schrieben und eine Sensationslust der Gaming-Presse dieses Thema in voller Breite auszurollen. Nur gespielt hatte Bless wohl niemand.
Mein Eindruck ist anders, ganz anders. Und das liegt nicht etwa daran, dass ich die Schwächen des Spiels, das unterirdische Marketing oder die technischen Probleme, den fehlenden Endcontent und diverse andere Probleme nicht sehe oder gar sehen will. Nein, mein Eindruck ist ein anderer, weil ich in Bless schon nach dem ersten Einloggen richtig viel Spaß hatte. Niedrige Erwartungen sind vielleicht auch schwer zu enttäuschen, aber damit würde man Bless Unrecht tun.
Bleiben wir bei meiner anfänglichen Analogie, ich komme also gut gekleidet auf der Party an. Und ja, ich hatte den Anstand die Jogginghose gegen eine klassische Blue-Jeans zu tauschen. Klassisch… Levis 507 Bootcut! nicht diese unsäglich hässlichen Skinny-Dinger die heute Jeans genannt werden wollen. Die Musik ist besser als erwartet und man drückt mir umgehend eins dieser neuen überflüssigen Craft-Biere in die Hand, überraschenderweise schmeckt es und ist angenehm kühl. Schnell wird mir klar, ich stehe in mitten meiner guten alten Schulfreunde und Bekannten die sich zwar größtenteils gar nicht drastisch verändert haben, aber alle viel zu erzählen haben, einfach weil wir uns lang nicht mehr sahen. Am nächsten Morgen wache ich verkatert auf, ans Ende der Veranstaltung kann ich mich nur wage erinnern, mein Kopf schmerzt aber es hat Spaß gemacht. Ich beschließe, das wird nicht das Letzte mal gewesen sein.
Meine Bless-Erfahrung ist ziemlich identisch mit dieser Party, ich bekomm ein neues Gewand, eine ungewohnte Umgebung und Handwerkszeug, das ich bestens kenne. Für mich fühlt sich Bless an, wie die kleine aber angenehme Evolution von Spielen wie Herr der Ringe online, Aion oder Archlord. 90% aller Mechaniken verstehe ich ohne auch nur nachdenken zu müssen und die fehlenden 10% wecken in mir diesen guten alten Trieb etwas ergründen zu wollen. Das Kampfsystem wirkt grobschlächtig, doch wer sich die Mühe macht genauer hinzusehen, wird belohnt. Es ist facettenreicher und schöner als gedacht. Es bietet dank der Möglichkeit Skills unterschiedlich stark zu gewichten, eine Tiefe, die man schnell übersieht. Und das ist nur ein Beispiel von vielen.
An diversen Stellen gibt es kleine motivierende Systeme, Stellschrauben und Mechaniken, die mich fesseln und in ihren Bann ziehen. Seien es die unterschiedlichsten Buffs von gezüchteten Pets, das Crafting, welches sogar mich dazu bringt es mal wieder zu probieren oder das Killquest-System, das immer wieder aufs Neue dazu animiert auch in den hintersten Winkel der Landschaft zu kriechen weil auch dort noch eine Spezies verhauen will um mir Loot zu verdienen.
Das ein Youtuber diese in seinem Anspieltest übersehen hat, als er möglichst schnell durchs neue Spiel hetzt um mit seinem Video erster zu sein um möglichst viele Klicks zu generieren, verwundert mich nicht. Leider werden deren Einschätzungen abertausendfach unhinterfragt übernommen und in die Welt geplärrt, nicht bedenkend, dass ein Youtuber davon lebt seine Videos schnell zu veröffentlichen und somit viel zu oft auf saubere Recherche verzichtet. Das einige gar vorsätzlich negative Reviews veröffentlichen, da diese nachweislich mehr geldwerten Umsatz generieren, ist nicht einmal eine Randnotiz im Fegefeuer der Kritikermeute.
Um der Gerechtigkeit die Ehre zu geben, natürlich kann ich einige Kritiker verstehen. Bleiben wir bei der Party-Analogie. Da hat sich der ein oder andere seit Jahren auf diese eine Party gefreut, die so genial werden MUSS weil es ja kaum noch gute Parties gibt. Außerdem wartet auf ihr sicher die Mutter seiner zukünftigen Kinder, es wird Drogen im Überfluss geben, viele wahnsinnig interessante Menschen mit großartigen Geschichten und es wird die eine, die legendärste, die beste Party aller Zeiten werden. Denn vergleichen wird man sie mit jeder anderen Party, die es bis zu diesem Zeitpunkt gab.
Und dann? Dann findet man sich zwischen dem Erzkanzler und seinen alten Freunden in albernen 50er-Jahre Klamotten, auf abgeranzten Sofas und halb aufgebauten Stühlen um ein kleines Lagerfeuer sitzend, merkwürdiges Bier trinkend und sich gegenseitig langweilige Geschichten von früher erzählend. Suuuuuuper, und dafür musste man dann auch noch Eintritt bezahlen.
Bless ist kein überragendes MMO, es definiert das Genre nicht neu, es ist weder AWESOME noch AMAZING, alle Alleinstellungsmerkmale sind zu vernachlässigen (auch wenn mein erklärtes Langzeitziel ein legendäres Stinktier-Pet zu züchten einfach unschlagbar für Bless spricht) und alles in allem ist Bless weder zeitgemäß noch ein Feuerwerk des Ideenreichtums. Und genau all das was es nicht ist, macht für mich den Reiz aus. Ich finde in Bless genau die Eigenschaften, die ich in heutigen MMOs vermisse, in einer MMO-Landschaft in der sich jeder Mitbewerber durch noch so „innovative“ Ansätze abheben möchte, ging viel verloren, welches mich damals an MMOs so fasziniert hat. Und genau das, finde ich in Bless.
Auch mein kleiner Beitrag hier, kann aber nur ein Momentausschnitt sein. Publisher Neowiz hat unzählige Baustellen und Brandherde, die angegangen werden müssen um das Spiel am Leben zu erhalten oder sogar erst ins Leben zu rufen. Bless ist eine Betaversion eines Liebhaber-MMOs für ältere Herren mit sentimentalen Gaming-Gefühlen, die im Schleier der Nostalgie die aktuellen Schwächen nicht zu deutlich sehen wollen. Bless ist nicht das fleischgewordene Centerfold, das sich viele erträumt haben. Aber für ältere Herren reicht ab und an eben doch ein altes Schwarzweiß-Foto von Betty Page, die Gewissheit, das Liebe nicht immer mit unbändiger Leidenschaft einhergehen muss und ein kleines Feuer oft länger brennt als ein Strohfeuer.
Als Autor einer Review würde ich euch von Bless abraten. Als Spieler und Liebhaber von klassischen MMOs hingegen, bin ich Feuer und Flamme. Ich leiste mir den Luxus Neowiz einen Vertrauensvorschuss zu gewähren, denn ich mag Bless jetzt schon und so wie sich der Publisher aktuell um das Spiel bemüht, könnte wirklich noch ein schönes Spiel entstehen, dafür bin ich bereit über viele Stolpersteine hinwegzusehen.
Außerdem mag ich es dem Spiel beim Wachsen zuzuschauen. Es erinnert mich an die gute alte Zeit in der jeder Patch ein MMO unspielbar machen konnte, jedes Balancing meine Lieblingsklasse in Grund und Boden nerfte und ich ihr trotzdem die Treue gehalten habe um vielleicht letztlich belohnt zu werden. Ich mochte jeden noch so nervige kleine Bug, da er die Spielerschaft zusammengeschweißte, hatte man es doch gemeinsam erlebt. Dieses Gefühl ist unbezahlbar, aber für viele jüngere Spieler heute wohl nicht mehr nachvollziehbar.
Sollte es Neowiz in den Sand setzen, habe ich aber jetzt bereits für mein Geld mehr Spaß gehabt, als mit so einigen hochpolierten professionalisieren AAA-Spielen der Vergangenheit.
Letzte Worte