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Mrz 01

Realitätenwanderer

Habt ihr euch schon mal die Frage gestellt was für Menschen hinter den Charakteren eurer Mitspieler steckt? Ich gehe mal davon aus, ist es doch die gesunde Neugier die sich fragt, ob Urgnatz der Halbork in Wahrheit vielleicht doch eine Steuerfachangestellte steckt, die ihre Unterwäschemodell-Kariere an den Nagel hängen musste weil in den Hotels das W-Lan immer so schlecht ist oder ob hinter Urgnazt dann doch eher der LKW-Fahrer in den Mitvierzigern steckt.

 

Voicechat-Programme sind meist gut geeignet um verschobene Klischees schnell in der Grausamkeit der Realität zu ertränken. Oder das Unterwäschemodell hat verdammt viel Whiskey getrunken, raucht seit 35 Jahren, ist allerdings erst zarte 22 und der LKW wird als sportlicher Flitzer verkannt. Spätestens wenn Urgnatz aber mit dem Satz „Meiner is 12 Meter lang!“ protzt, ist auch diese Illusion kaum noch haltbar.

 

Wirklich interessant wird aber erst die Übertragung des virtuellen Verhaltens in die reale Welt. Man stelle sich vor der Bundeswehrsoldat schreit den behandelnden Arzt er möge doch ma bitte seinen verfluchten Job machen und heilen sonst würde er das Krankenhaus umgehend verlassen dann könnt der unfähige Heiler ma selber schauen wie er klar kommt.

 

Auch auf einem zweischwänzigem Löwen in die Stammkneipe reitend wird man im Allgemeinen wohl weniger Neid erfahren als allgemein gedacht, egal in wie viele zoologische Gärten man dafür einbrechen musste…

 

Als Spieler lebt man in mindestens zwei Realitäten. Meiner Meinung nach trainiert das für den Alltag, birgt aber auch Gefahren.

 

Plaudern wir ein wenig aus dem Nähkästchen. Wenn ich im TS erzähle, das unser kleener Mob gerade Aggro aufbaut, wir kurz seine Rüstung wechseln müssen um den Enrage-Timer nicht auszureizen, weiß jeder unser Kind hat seine Windel „beladen“. Aber erzählt das mal jemandem der seinen 6-Kern Intel-Rechner mit 16 GB Speicher mit Facebook an der Belastungsgrenze sieht.

 

Oft denkt man nur darüber nach was alles passieren könnte, aber wenn der Anruf der Kindergärtnerin dann wirklich kommt, ist man in Erklärungsnot.

 

Er hat ein Kind als Kacknoob beschimpft und was meint er mit ololol… Wir haben uns ja schon gewundert warum er beim gemeinsamen Mittagessen immer Omnomnom sagt, aber das geht eindeutig zu weit!“

 

Kinder sind wunderbar weil sie so ungefiltert ehrlich sind. Wer hat insgeheim seinem Arbeitskollegen nicht schon einmal ein verächtliches „RTFM B00n!“ zurufen wollen. Wer kann sich denn wirklich davon freisprechen dem Chef mal ein „get skill!“ entgegen brüllen zu wollen? Ein Knockback am überfüllten Tresen des Lieblingsclubs, ein Stun für den Bus an der Haltestelle, ein BÄM-Crit für den Typen von der GEZ und ein WTF!? für den armen Hotline Mitarbeiter der am Sonntagmorgen nur ein „paar“ Fragen zur „allgemeinen Nutzung des Radios“ stellen möchte. Spätestens wer über seine eigenen AE-Fähigkeiten nachdenkt, wenn er mit seiner Freundin zusammen einkaufen geht, sollte vorsichtig werden.

 

Doch sind MMO´s nicht auch dankbar eben weil sie uns die Möglichkeit bieten eben jene Gedanken auszuleben? Es wird immer berichtet wie „asozial“ Computerspiele doch machen. Logisch, den Gegenbeweis können wir als Spieler ja auch nicht erbringen.

 

Der Klassiker, XYZ ist ist Amok gelaufen weil er gespielt hat… Jo genau der gute wäre ohne Computerspiele sicher sensibler Altenpfleger geworden, hätte seinen Mitschülern zum Valentinstag Muffins mit kleinen Herzchen drauf gebacken und seinen übertrieben autoritären Vater mit Zuneigung auf den rechten Weg gebracht… Selbst als Soap Opera wäre das Szenario unglaubwürdig, was aber die Kritiker schon seit Jahrhunderten nicht davon abhält Medien als Sündenbock für verfehlte Sozialpolitik heranzuziehen.

 

Als Gutenberg das Buch populär machte, bangte man um die Moral. Als Bikini und Minirock die Modewelt eroberte war der Untergang der Menschheit nicht mehr weit und nun sind es eben die Computerspiele. Getragen von Urgnatz, wahlweise Steuerfachangestellte oder LKW-Fahrer. Computerspiele sind schon lang in der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“ angekommen, es wird Zeit dass Politiker und verknöcherte Moralverfechter den selben Weg beschreiten.

 

Nein, auch ich habe die Erleuchtung sicher nicht mit dem letzten Killkenny an der Bar gratis bekommen, aber im Gegensatz zu sogenannten „Fachleuten“ poche ich nicht auf meine Unfehlbarkeit.

 

Die aktuelle Situation zeigt es deutlicher denn je, das BKA durchforstet 37 Millionen Emails und hat 512 Verdachtsfälle? Und das weil jemand „Alter dein Kleid gestern war echt BOMBE!“ geschrieben hat. Ich wette, die Genehmigung der Überprüfung ist nicht digital erfolgt, mit so neumodischem Kram soll man doch bitte einzig die Soko „elektrische Analysetätigkeiten“ belasten.

 

Eine Bundesregierung die sich von Protesten gegen ACTA überrascht zeigt, möchte man ein gepflegtes RTFM zurufen und ihnen dann doch erklären das ein „Browser“ weder ein zu schnell fahrender Autofahrer noch ein Dusch-Fetischist ist.

 

Mir sind die „Realitätswanderer“ irgendwie lieber. Burn-Out? Kein Problem zwei Wochen MMO auf Krankenschein und alles ist wieder im Lot. Dem Chef sagen können das man heute früher Feierabend macht weil man zum Raid muss? Warum nicht! Zocken in der Mittagspause? Immer her damit. All das führt zu kreativen und anpassungsfähigen Köpfen und nicht zu sklavischem Arbeiten. Computerspiele sind Ausgleich und Ventil, Ablenkung und Kompensation. Man mag fast postulieren: Böse Menschen haben keine Spiele. Doch scheint es einfacher zu sein die Augen ganz fest zu verschließen und sich dieses Feindbild nicht nehmen zu lassen.

 

Fragt bitte nicht wie ich von zweischwänzigen Löwen auf die „Soko Analysetätigkeiten“ gekommen bin. Manchmal leb ich wohl in einer anderen Realität.

 

Genug Sozialkritik, ich geh nu ma an den Tresen geb der wunderschönen Bedienung einen Kuss und freu mich, dass ich bei ihr mein Bier auch bekomme wenn ich nen Mana-Trank bestell. Denn sie spielt selber MMO´s.

Prost, euer Erzkanzler